Charles Bird
Shakespeare und der „Caleygreyhound“

Etwas Besonderes geschah mit den Wappen des Earl of Oxford of Hedingham Castle gegen Ende des 15. Jahrhunderts. Der blaue Eber, der jahrhundertelang das Wappen der de Veres war, wurde auf einmal durch zwei für dieses Haus völlig neue heraldische Tiere ersetzt. In diesem Bericht werden Einführung und Entwicklung dieser neuartigen Zusätze zur Heraldik der de Veres geschildert; wie sie dann verschwanden, um später unter äußerst merkwürdigen Umständen wieder aufzutauchen und neues Licht auf die Identität von Shakespeare zu werfen.

Aus dem alten Adelshaus de Vere ist John, der 13. Graf von Oxford, der 1485 beim Sieg des Grafen von Richmond, des späteren Königs Heinrich VII., über König Richard III. in der Schlacht von Bosworth eine nicht geringe Rolle spielte, wahrscheinlich der bekannteste. Nachdem er zum König gekrönt wurde, dankte Richmond es dem Grafen, indem er ihn in seinen Besitzstand wieder einsetzte und ihm zu manchem einflußreichen Amt im Staate verhalf.
In jenen Tagen ging mit einem hohen Status eine entsprechende heraldische Ausstattung einher. John de Vere hätte sich für seine heraldische Rangaufwertung aus den vielen zur Auswahl
stehenden Wappentieren bedienen können; eine Arche Noah voller exotischer Gestalten gab es. Aber der Entwurf eines neuen Wappenschildes war keine so einfache Aufgabe; Rücksichten waren
zu nehmen sowohl auf die Tradition als auf die Wahl der Gefolgschaft. Ein Wappenschild war eine Art Ausweis dafür, wem man sich verbunden fühlte und wie eng. Die Treue de Veres zum
Königshaus Lancaster war über jeden Zweifel erhaben, und da dieses seit der Zeit Heinrichs IV. als Abzeichen eine weiße heraldische Antilope (manchmal versehen mit einer Gnumähne und einem langen Büschelschwanz) im Wappen führte, hatte, vielleicht seit dem Sieg des Hauses Lancaster in der Schlacht von Barnet Heath im Jahre 1461, auch Oxford eine solche Antilope in sein Wappen eingefügt. Auf einem seiner Siegel sind zwei solche Tiere abgebildet. Sie haben die Vorderpfoten eines Adlers, aber die Hinterbeine und Tatzen eines Windhundes (die später ebenfalls mit Klauen versehen worden sind).
Auf seinem großen schwarzen Marmorgrab in Castle Hedingham ließ auch John, der 15. Graf, diese mit Klauen ausgestattete Antilope statt des Ebers neben seine Wappen stellen und wählte als Gegenüber ein habichtartiges Geschöpf mit einem Mädchenhaupt, was zwar nicht völlig der mythologischen Harpyie entsprach, aber mit dieser doch genügend Ähnlichkeit aufwies, um den Namen Harpyie zu verdienen. Die Harpyie war ursprünglich das Erkennungszeichen von Richard of Conborough, Sohn von Edmund Langley, dem Herzog von York, was die verwunderte Frage aufwirft, wieso der treue Lancasteranhänger de Vere ausgerechnet ein ausgesprochenes
Symbol des feindlichen Hauses York übernahm. Der Grund dürfte gewesen sein, daß Oxford, nachdem in Bosworth so viele Yorkisten gefallen oder gefangengenommen waren, sich dieses Abzeichen als Aneignungswappen wählte, was nach den heraldischen Gesetzen das
Recht verlieh, es für alle Zeiten den Nachfolgern zu vererben.

Der Caley-Windhund

Nach dem Entwurf dieser geketteten und vergoldeten Chimäre mußte John de Vere auch noch einen Namen ersinnen, der gravitätisch genug klang, um mit einem der damals prestigeträchtigsten Adelshäuser assoziiert werden zu können. Unter den Abzeichen des frisch gekrönten Königs Heinrich VII. war ein weißer Windhund, der als Erkennungstier der Grafen von Richmond weithin bekannt war. Was bedeutet das Wort „caley“? In seinem Buch über die Familie de Vere geht Severne A. Ashurst Majendie davon aus, daß John de Vere das Wort „cale“ meinte, das „caley“ ausgesprochen wurde. „Cale“ bedeutet etwa „herumtollen wie ein junger Bock“. „Caley“ sei denn als Präfix zu dem Wappenwindhund des Königs hinzugefügt worden, um sein eigenes Wappentier, den springenden Windhund, zu kreieren.
Jedoch haben spätere Heraldikforscher nachgewiesen, daß de Veres chimärisches Wappentier nicht einfach einen Hund darstellt, sondern eine politisch motivierte Mischbildung aus der Antilope des
Hauses Lancaster und dem königlichen Windhund, versehen mit den Krallen der yorkistischen Harpyie. „Caley“ und „Colley“ sind auch alte Bezeichnungen für „Hirsch“ und „Antilope“, so daß diese Mischbildung einfach nach seinen beiden Bestandteilen benannt worden ist. Die Bedeutung des Wortes „caley“ und seiner Synonyme scheint umfassend genug gewesen zu sein, um eine Vielzahl von Tieren und selbst Pflanzen zu bezeichnen, die ähnliche Bewegungsmerkmale aufwiesen: Ziegen, Hirschbock, Schafe... Aus dem am 10. April 1509 erstellten Testament John de Veres, des 13. Grafen von Oxford, geht hervor, daß er dieses Wappentier auch anbrachte auf:
persönlichen Haushaltsgegenständen, Wertsachen, Zeremonienkleidung, Kirchensilber, usw., denn unter den Gegenständen, die er einem künftigen Sohn vermachte, befinden sich: Two censors of silver with Calygreyhounds weying 133 ounces [zwei silberne Weihrauchfässer mit Caley-Windhunden, 133 Unzen wiegend]. In einem Inventar ist weiter erwähnt: A Seler and a Tester of crymson satteyn of Bruggeis embroidered with a Parc powdered with boores, molettes, and Caleygreyhounds with a counterpoint of the same, £15. [Ein Siegel und ein Baldachin aus karminroter Brügger Seide, bestickt mit einer Abbildung, die einen Park zeigt, in den Eber, heraldische gradkantige 5-strahlige Sterne und Caleywindhunde eingezeichnet sind, mit einer Steppdecke für denselben, £15].
Der „caley“ des dreizehnten Grafen von Oxford war das jüngste in der Reihe der Abzeichen von Castle Hedingham. Vier dieser Tiere sind auf dem Turm der St. Andrew-Kirche in Earls Colne, einige wenige Meilen von Hedingham Castle entfernt, in Stein geschnitzt. Sie sind auch auf dem Grab des 15. Grafen zu sehen.

Geplünderte Gräber

Vor der Reformation wurden die de Veres meist im Kloster Colne Priory in Essex bestattet. Als diese Besitzung im 18. Jahrhundert von einem Mister Wale erworben wurde, plünderte er das Grab und brüstete sich nachher damit, er habe die Wertgegenstände für den Bau seines Schornsteins benutzt.
Zum Glück ist eine von David King gezeichnete Abbildung dieses Grabes auf uns gekommen. Auf dem Bild sehen wir den 13. Graf und die Gräfin in Gebetshaltung. Dem Grafen zu Füßen liegt ein „caley“ mit Klauen und langem Schwanz. Wirkliche Hirsche haben natürlich einen stiftförmigen Schwanz und gespaltene Füße. Soweit ich feststellen konnte, ist der Caleywindhund in dieser besonderen Form in keinem anderen Wappen der de Veres abgebildet, so daß es als unwahrscheinlich gelten muß, daß jemand außerhalb des Familienkreises davon Kenntnis gehabt hätte und ein Motiv gehabt haben könnte, es Ende des 16. Jahrhunderts oder Anfang des 17.
Jahrhunderts zu benutzen. Der „caley“ des Hauses de Vere war viel zu sinnverwickelt, als daß seine Bedeutung außer von Eingeweihten und einem kleinen Kreis von Spezialisten zu erraten gewesen wäre. Und dann wusch der Strom der Zeit das Wappentier bald aus dem kollektiven Gedächtnis.

Die erste Folioausgabe

Daß die Veröffentlichung der ersten Folioausgabe von Shakespeares Bühnenstücken ein sehr ehrgeiziges und doch zugleich offenbar eilig durchgeführtes Projekt war, wird wohl niemand bezweifeln. Gewidmet war sie William Herbert, 3. Graf von Pembroke, und seinem
Bruder Philip, 1. Graf von Mongomery, der mit Susan de Vere, der jüngsten Tochter von Edward de Vere, dem 17. Grafen von Oxford, verheiratet war. Dafür, daß die beiden Brüder auch sonst an der Veröffentlichung beteiligt waren, liefert allein der Projektaufwand ein Indiz.
Ich glaube, daß wir nun über die Beteiligung dieser Familien etwas mehr sagen können.
1582, Edward de Vere war 32 Jahre alt, widmete ihm der Dichter Thomas Watson ein Werk mit dem griechischen Titel Hekatompathia [„Hundert Stimmungen“]. Auf der Titelseite ist der Textteil durch verschiedene Abbildungen eingerahmt. Zu erkennen sind Cupido, Venus und Apoll, der hier wie üblich mit einem Speer bewaffnet ist. Unten links und rechts sind zwei gehörnte Tiere zu sehen, bei denen man an kämpfende Stiere denken kann, was eine Anspielung auf Oxfords Grafentitel wäre. Das A-förmige Zierwerk oben ist als Aleph aufzufassen, ein Buchstabe, der in alter Schrift für „Ochse“ stand. Die Bilder auf der Titelseite von Hekatompathia sind so deutlich als Chiffren für Oxford zu erkennen, daß es schon fast verwunderlich wäre, wenn sie auch noch in einem anderen Werk auftauchen würden. Dieses andere Werk aber existiert! Es erscheint gut vierzig Jahre nach Hekatompathia. Es ist die erste Folioausgabe von Shakespeares Bühnenstücken.
Denn dem Graphiker, der die Verzierungen dieser Ausgabe entwarf, muß Edward de Veres Heraldik bekannt gewesen sein. Zwischen den Titelseiten von Hekatompathia und dem Ersten Folio besteht eine große Ähnlichkeit. Nur sind die vermeintlich kämpfenden Stiere [die
schon vorher eher Hunden ähnelten, Anm. d. H.] eindeutig in Caleywindhunde verwandelt worden!
Die Identifizierung dieser Wappentiere wurde uns durch ihr Vorhandensein auf Siegel und Grab des 13. Grafen von Oxford sowie auf dem Grab des 15. wie des 16. Grafen in Castle Hedingham
erleichtert. Bezeichnenderweise hat der Graphiker den ursprünglichen Stierschwanz durch den geschwungenen Windhundschwanz ersetzt. Außerdem konnte ich feststellen, daß die Transparente der Kolophone von Watsons Hekatompathia und Shakespeares Folio bis auf diese Abänderung der Stiere in „Caley“-Windhunde vollkommen übereinstimmen.
Die Dekorationen auf der Titelseite des 1582 dem 17. Grafen von Oxford gewidmeten Werkes Hekatompathia transportierten bildliche Anspielungen auf ihn. Die Titelseite der 1623 erscheinenden ersten Folioausgabe von Shakespeares Bühnenstücken ähnelt jener
von 1582, nur daß sie einen spezifischen Hinweis auf den Grafen von Oxford durch eine Bezugnahme ersetzt, die als noch spezifischer gelten kann.

Ergänzung

Christopher Dams verdanke ich den Hinweis, daß das A-förmige Zierwerk auf der Titelseite von Watsons Hekatompathia sich auch auf der Vorderseite B1 der ersten Quartoausgabe von Hamlet im Jahr 1603, des sogenannten „schlechten Quartos“ findet.