Charlton Ogburn, Jr .

Einer der „wölfischen Grafen“
Der Zusammenbruch der Shakespeare-Orthodoxie

Informierten Lesern, die sich nicht a priori gegen die Fakten stemmen, muß es klar sein, daß
sich die traditionelle Auffassung von Shakespeares Autorschaft nicht mehr lange wird halten
können. Die Grundlagen, auf denen diese herkömmliche Anschauung beruht, sind vor allem
durch ihre Dürftigkeit bemerkenswert. Sie bestehen aus einer Ähnlichkeit, aber nicht Identität
von Namen (Shakspere, unter welchem Namen der Mann aus Stratford getauft und begraben
wurde, und Shakespeare, der Name des Autors, der durchgängig in einer Form aufscheint, die
ein langes „a“ in der ersten Silbe verlangt), weiters aus einem Geflecht von Mutmaßungen („Es
scheint wahrscheinlich, daß ...“, „Wir können annehmen, daß...“) und minimalen
Andeutungen, daß es sich bei Will Shakspere aus Stratford um den Dichter und Dramatiker
handelt – dem Minimum, das vor vierhundert Jahren nötig war, um eben diesen Eindruck im
Interesse der Schlüsselfiguren bei Hofe zu erwecken; alle diese Andeutungen sind zweideutig
und entspringen mit ziemlicher Sicherheit dem Einfallsreichtum Ben Jonsons. Zukünftige
Forscher werden – so sehe ich das – zu der Ansicht gelangen, daß die offizielle Fiktion der
Shakespearschen Autorschaft sich nie hätte festsetzen können und der offenkundig illiterate
„Malzhändler und Geldverleiher“ (James Joyce), der „Lümmel aus Stratford“ (Henry James) der
Nachwelt nie bekannt geworden wäre, wenn man in der Kirche von Stratford nicht das
Grabmal für „Shakespeare“ errichtet hätte.
Jeden, der sich für die Entstehung von Shakespeares Werken interessiert, überrascht nach
kurzer Zeit die völlige Disparität zwischen der Welt, die Will Shakspere gekannt haben muß,
und jener, in der Shakespeares Charaktere sich so überzeugend bewegen. Ben Jonson hatte
Verbindungen zur Aristokratie, die weit über das hinausgehen, was Shakspere im Licht der
bekannten Fakten zugebilligt werden kann, und doch beschränkte er sich im Regelfall bei der
Auswahl seiner Charaktere auf die Mittelschicht. Warum der Sohn des Handschuhmachers es
vorgezogen hätte, vorwiegend über die höchsten Gesellschaftsschichten in England und auf
dem Kontinent zu schreiben, von denen seine Kenntnis nur mager gewesen sein kann, und dies
so überzeugend wie irgendein Habitué und zur Zufriedenheit dreier aufeinanderfolgender
englischer Könige, ist ein Geheimnis, das die Anhänger seiner Autorschaft ungelöst gelassen
haben. Und doch ist es von zentraler Bedeutung.
Lassen Sie mich einen Vorschlag machen. Lassen Sie uns annehmen, daß wir die Werke von,
zum Beispiel, Henry James, Joseph Conrad, Willa Cather, Mark Twain, Virginia Woolf,
Arnold Bennett und Rudyard Kipling gesammelt haben, alle ohne Angabe eines Autors, und
daß uns zudem die Biographien ihrer Verfasser vorliegen (ohne Angabe des Namens). Und nun
stellen wir uns einen gebildeten Leser vor, der die Werke aber vorher nicht gekannt hat: Würde
er Schwierigkeiten haben, die Biographien richtig zuzuordnen? Gewiß nicht. Ist es nicht ganz
natürlich, daß jene, die das Fehlen einer vergleichbaren Verbindung zwischen Shakespeares
Werk und dem Leben des Stratforders überrascht hat, nach einem anderen Kandidaten für die
Autorschaft gesucht haben? Bekanntermaßen haben sie mittlerweile einen gefunden, nämlich
Edward de Vere, den 17 . Graf von Oxford, bei dem der Zusammenhang zwischen Werk und
Leben überzeugend ausfällt, zusammen mit anderen Umständen, die seine Identifikation mit
Shakespeare nahelegen. Zugleich ist kein wirklich starkes Argument gegen seine Kandidatur
vorgebracht worden. Die akademische Welt stemmt sich nur ganz einfach gegen jede
Alternative zu ihrer seit langem getroffenen Wahl.
„Der Schriftsteller schreibt in Wahrheit immer seine eigene Biographie“, heißt es bei Anthony
Trollope. „Der Künstler überträgt das eigene Leben auf seine Schöpfungen“, erklärte Anatole
France, „andernfalls schnitzt er bloß Marionetten und bekleidet Puppen.“ Auch andere
Autoren äußerten sich zu dem Thema in ähnlicher Weise, unter ihnen Joseph Conrad, Samuel
Butler, Wallace Stevens, Havelock Ellis, Friedrich Nietzsche oder Chateaubriand, dazu haben
Kritiker die Rolle der Autobiographie bei George Bernard Shaw, Leo Tolstoi, Eugene O’Neill
und anderen betont. Für den Akademiker macht das keinen Unterschied, ebensowenig wie die
schroffe Ablehnung, die der „Barde vom Avon“ durch drei der größten amerikanischen
Schriftsteller erfährt: Walt Whitman, Mark Twain und Henry James. Es scheint bedeutungslos,
daß Whitman, auf Shakespeares historische Dramen bezugnehmend, zu dem selben Schluß
kam, zu dem wohl jeder unvoreingenommene und gebildete Leser kommen muß, „daß im
Grunde nur einer der ‚wolfish earls‘, die in den Stücken so reichlich auftreten, oder einer ihrer
leiblichen Nachkommen und Kenner als Autor dieser wundersamen Stücke in Frage kommt.“
Wir haben das Wort kompetenter Autoritäten, daß Shakespeare die griechischen und
lateinischen Klassiker im Original las (daß er „wenig Latein und weniger Griechisch konnte“,
hat Ben Jonson nicht gesagt) und mit Französisch und Italienisch gut bekannt war; daß sein
Vokabular doppelt so umfangreich wie das Miltons war und daß er an die 3200 Wörter neu in
die englische Sprache brachte, während sein Beitrag zur Idiomatik „zehnmal größer als der jedes
anderen Autors in irgendeiner Sprache“ war. Seine „grundlegende Kenntnis des Rechts“ ist von
vielen Seiten überzeugend dargelegt worden; im übrigen zitierte kürzlich ein Aufsatz im New
Yorker aus Henry V, um zu illustrieren, wie gut Shakespeare das internationale Recht
beherrschte. Ganze Bücher sind über seine Kenntnis der Medizin geschrieben worden. Es
besteht kein Zweifel, daß er zu den gebildetsten Leuten seiner Zeit gehört haben muß. Daß
jemand wie Will Shakspere auch nur annähernd eine solche Bildung hätte erwerben können, ist
hingegen höchst unwahrscheinlich: nach allem, was man weiß, hätten seine Lebensumstände es
einfach nicht zugelassen.
Aus der Fülle der Indizien nur noch dies: Lange Zeit haben die Forscher über Shakespeares
Bekanntschaft mit Details der Topographie von Venedig und deren Implikationen gerätselt.
Die Vertrautheit unseres Dichters mit den Sportarten, die dem Adel vorbehalten waren, speziell
mit der Falknerei, ist ein weiterer Hinweis auf seine soziale Herkunft. Seine Sicht auf die Welt,
soweit sie sich aus den Stücken erschließen läßt, spiegelt durchgängiger jene des Adels wider als
bei jedem anderen irgendwie relevanten Schriftsteller, den wir kennen. Frank Harris, für den
„Aufrichtigkeit das Kennzeichen des Genies“ darstellt, woraus wir umgekehrt zu schließen
hätten, daß Shakespeare „sich selbst mit der größten Genauigkeit abgebildet hat“, erklärte, der
Dramatiker müsse ein „geborener Aristokrat“ sein.1 Während die Komödien für Walt Whitman
„exquisit“ und „voll bewundernswürdig porträtierter alltäglicher Charaktere“ waren, fand er
diese Porträts zugleich „zur Zerstreuung des Schlosses, und aus dessen Blickpunkt gemacht“
und daher „rundum unannehmbar für Amerika und die Demokratie“.
Alle diese Überlegungen hat der akademische Betrieb als unerheblich angesehen. Für die
Professorenschaft ist Shaksperes Verfasserschaft der Shakespeareschen Werke als gegeben
anzusehen. Es ist so, weil es so ist. Es hat beinahe den Charakter eines religiösen Lehrsatzes,
unabhängig von Evidenz und Einsicht. Shakespeares Stücke entstanden nicht wie andere Werke
der Kunst aus Vorbedingungen, die durch die Natur und die Erfahrungen des Künstlers
definiert sind, sondern durch spontane Zeugung, bereits vollendet in Shaksperes Geist
eingepflanzt, wie in der Erzählung der Bibel die Pflanzen und Tiere der Erde innerhalb von
sechs Tagen voll ausgebildet da waren. Für die Professoren der anglistischen Institute scheint
das nicht schwer zu glauben; Faktum jedenfalls ist: die Professoren glauben es alle, bis auf den
letzten Mann, die letzte Frau, und wehe dem, der zweifelt. Darin genießen die Akademiker die
breite Unterstützung des lesenden Publikums, das (zu Recht) von der Voraussetzung ausgeht,
daß die Autoritäten bei Trost sind.
Wir können allerdings annehmen, daß Denkschulen, die sich über Fakten und Logik
hinwegsetzen, und die für ihre Akzeptanz darauf zählen müssen, daß sie so akzeptiert werden,
wie sie sind, von dem Zeitpunkt an zum Opfer beschleunigter Auflösungserscheinungen
werden, da der Common Sense sich ihrer bemächtigt und der Dissens respektabel wird. Alle,
die nicht unentwirrbar in die Sache verstrickt sind, gehen in Deckung, laufen zu den
Rettungsbooten. Der Common Sense sagt uns mittlerweile aber, daß die unauflösbaren
Widersprüche verschwinden, die aus der Zuschreibung der in Frage stehenden Werke
entstehen, sobald Oxfords Autorschaft akzeptiert wird, bis hin zu der Erkenntnis, daß de Veres
Juvenilia ununterscheidbar von denen Shakespeares sind.
Es könnte sogar sein, daß die folgende kleine Zusammenstellung der besonders fatalen
Widersprüche in der Argumentation für den Mann aus Stratford zu entscheidenden
Desertionen aus den Reihen seiner Anhänger führt. Und selbst wenn dies nicht der Fall ist, so
hat sie doch ihren Zweck erfüllt, indem sie ein Musterbeispiel für diese kostspielige menschliche
Neigung vorgeführt hat, nämlich etwas zu glauben, nur weil es das ist, woran geglaubt werden
muß. Für diese Neigung, darin werden mir viele zustimmen, ist die Professorenschaft besonders
anfällig.
Um an die Autorschaft des Mannes aus Stratford zu glauben, muß man daran glauben, daß er
nach allem, was wir wissen, mehr als ein Dutzend seiner Stücke geschrieben hat, ohne daß sein
Name als der eines Dramatikers jemals in Wort oder Schrift aufgetaucht wäre, oder überhaupt
als der eines Schriftstellers (eine flüchtige Erwähnung im Zusammenhang mit der Lukrezia
ausgenommen). Während Ben Jonson zuversichtlich vom Triumph seiner Nation sprach, von
der „Seele des Zeitalters“, die „Eliza und unsren James so eingenommen“ habe, während die
Zeitgenossen ihm die nie dagewesene Ehre erwiesen, seine gesammelten Stücke zu publizieren
(von denen sieben in der Folge der Krönung von König Jakob dem Ersten aufgeführt worden
waren2), sollen wir glauben, daß niemand, von dem wir wissen, jemals berichtet hätte, daß er
einem Schriftsteller namens William Shakespeare begegnet sei, ihn gesehen oder auf irgendeine
Weise mit ihm kommuniziert habe.
Was sagt uns das? Jeder begabte Mittelschüler könnte uns die Antwort geben – daß er nämlich
offenbar unter einem anderen Namen als William Shakespeare bekannt war. Es sagt uns, daß
„Shakespeare“, von dem wir als Dramatiker zuerst 1598 bei Francis Meres hören, wo er als „der
beste unter den Engländern, sowohl für Komödien als auch für Tragödien“ bezeichnet wird, ein
Pseudonym gewesen sein muß. Suchten wir dafür weitere Bestätigung, so ist diese darin zu
finden, daß der Name von den Zeitgenossen häufig mit einem Bindestrich geschrieben wurde,
also Shake-Speare, womit er als sprechender und erfundener Name gekennzeichnet war. Die
Professoren können kein Beispiel bringen, wo ein normaler Familienname auf diese Weise
geteilt wird, außer er ist von vornherein aus zwei Namen zusammengesetzt (oder er soll als
„sprechender“ verstanden werden).
Dann ist da das Zeugnis Ben Jonsons, des Insiders schlechthin, mit dem man sich
auseinandersetzen muß. Offensichtlich war es nicht unter Bens Würde, seinen Kollegen
herabzusetzen. Zum Teil geschah das wohl aus Eifersucht, doch was ihn speziell geärgert haben
dürfte, war das schwer erträgliche Wissen, daß diese Stücke, die den seinen überlegen waren,
jenem ungebildeten Provinzler zugeschrieben werden würden, und dies aufgrund der Dienste,
die er selber der Krone erwiesen hatte. Er gab sich Mühe sicherzustellen, daß diese Gaukelei
nicht überdauern würde, daß die Wahrheit ans Licht käme. Sein Werkzeug war die Figur des
Sogliardo in Every Man out of His Humour. Er läßt Sogliardo sich über die „Harrots“ (Herolde,
Verwalter des Wappenwesens) beklagen, „sie reden Sachen, die man nicht kapiert, und sie
erlegen einem Mann die härtesten Bedingungen für sein Geld auf, von denen man je gehört
hat“. Doch „ich kann mich jetzt Gentleman schreiben, hier ist mein Patent, es hat mich dreißig
Pfund gekostet, bei meinem Leben.“ (Etwa auf diese Art dürfte ja Will Shakspere sein Wappen
erlangt haben, das ihm im Namen seines Vaters verliehen wurde.) Einer der führenden
englischen Shakespeare-Forscher, der jüngst verstorbene A.L.Rowse, schreibt: „Als Motto
schlägt er [eine andere Figur] ‚Nicht ohne Senf‘ vor, und als Helmschmuck ‚eine Bratpfanne,
die nicht ihresgleichen hat‘ [a frying pan had no fellow]. Wir erinnern uns, daß William
Shakespeares [d.i. Shaksperes] Helmschmuck ein Falke war und sein Motto, einigermaßen
angeberisch, in Französisch, ‚Nicht ohne Recht‘ lautete.“ (Shaksperes Antrag auf ein Wappen
war zweimal abgelehnt worden, mit der Bemerkung „Non, sans droit“, „Nein, ohne Recht“,
was er, unter Auslassung des Kommas, zu seinem Motto machte.)
Kurzum, dies erlaubt uns, für „Sogliardo“ „Shakspere“ zu lesen. Und was für ein Mensch war
Sogliardo über das hinaus, was wir eben gehört haben? „Durch und durch ein Tölpel“ (an
essential clown), sagt uns sein Schöpfer; er „comes up every term to learn to take tobacco and
see new motions“. Dies, so versichert man uns, sei der Shakespeare, den derselbe Jonson „my
beloved author“ nannte, von dem er erklärte, „Triumphiere, mein Britannien, einen hast du
vorzuzeigen / Dem alle Bühnen Europas Ehrerbietung schuldig sind“, den er als „Seele des
Zeitalters, / Den Beifall! das Entzücken! das Wunder unsrer Bühne“ apostrophierte. Man sagt
uns also, wir sollten die beiden als ein und dieselbe Person ansehen, den „essential clown“ und
den, den Jonson „liebte, gerade noch diesseits der Vergötterung“, der „nicht aus einer Zeit,
sondern für alle Zeiten“ (not of an age but for all time) war. In der universitären Wissenschaft
herrscht in dieser Frage völlige Gewißheit, für Zweifel gibt es keinen Platz.
Ein weiterer heikler Punkt für die konventionelle Auffassung ist die Figur des Polonius. Daß
Polonius eine kaum verhüllte Darstellung von William Cecil, Lord Burghley ist, ist nie
bezweifelt worden. Einerseits sind das Aussehen und die Weltsicht der zwei so gut wie
ununterscheidbar, wobei sich die Schwierigkeit ergibt, wie der Stratforder Zugang zu Lord
Burghleys noch ungedruckten Preceptes erhalten haben soll. Sir Edmund K. Chambers, die
unbestrittene Autorität unter den orthodoxen Shakespeare-Forschern, zögert nicht, die
Identifikation von Burghley mit Polonius zu akzeptieren. Bliebe ein Zweifel, er würde durch
den Namen zerstreut, den Polonius in der ersten Ausgabe von Hamlet trägt: Corambis, ein
böses Wortspiel mit dem cor unum von Burghleys Motto, doppelzüngig statt aufrichtig. Es ist
klarerweise undenkbar, daß jemand von der sozialen Stellung Shaksperes unbehelligt
davongekommen wäre, hätte er Elizabeths Kanzler auf der Bühne so geschmäht. Nur jemand
aus der Nähe der Monarchin, der sich ihres Schutzes sicher war, konnte sich so etwas leisten.
Daß der Autor des Hamlet solche Gunst genoß, geht auch aus dem Titelblatt der Ausgabe von
1604 hervor. Dort sehen wir nichts geringeres als das königliche Wappen.
Und dann ist da das eine ausdrücklich autobiographische Werk, die Folge der 154 Sonette, die
man immer wieder versucht hat als „fiktional“ hinzustellen. Die ersten 126 beschäftigen sich
mit dem „besseren Engel“ des Dichters, „a man right fair“ („ein schöner Mann“, 1443). Daß es
sich hierbei um Henry Wriothesley, den 3. Grafen von Southampton handelt, dem Venus und
Adonis und Lukrezia gewidmet worden waren, darin stimmen alle seine drei Biographen
überein, und kaum jemand zweifelt heute daran. Zugleich spricht der Dichter den jungen
Freund auf eine Weise an, die kein Getreidehändler aus der Provinz und auch kein Schauspieler
sich hätte erlauben dürfen, wenn er mit einem Angehörigen des Hochadels kommunizierte.
Wir finden Ausdrücke der engsten Intimität: „Thou art all the better part of me“ („du der
bess’re Teil nur bist von mir“, 39); „Here’s the joy, my friend and I are one“ („Doch, Glück!
Sind wir nicht eins, er mein, ich sein?“, 42); und „Make thee another self for love of me“
(„Erschaffe neu, aus Liebe dich zu mir“, 10). Dazu kommt andererseits harschester Tadel: „But
thy odour matchest not thy show, / ... thou dost common grow“ („Doch dein Duft nicht
gleicht dem Augenschein, / ... du machst dich selbst gemein“, 69) und „Oh what a mansion
have those vices got / Which for their habitation chose out thee“ („O, welch ein Wohnhaus fiel
den Fehlern zu, /Die ihren Aufenthalt in dir sich wählten!“, 95). Denken wir auch daran, daß
die Sonette sicher, ebenso wie die Erzählgedichte, mit einer Widmung an Southampton
versehen werden sollten: „Your name from hence immortal life shall have.“ („Fortan
unsterblich wird dein Name leben“, 81) Und was in aller Welt könnte Will Shakspere im Sinn
gehabt haben, als er schrieb: „I may not evermore acknowledge thee“ („Nicht überall darf ich
mich zu dir kehren“, 36)? Er, den Grafen von Southampton anerkennen! Die Unvereinbarkeit
der Identität des Dichters mit der des Stratforders zieht sich konsequent und unüberbrückbar
durch die Sonette. Dazu nur ein weiteres Detail: während Will Shakspere gerade neun Jahre
älter als Southampton war und um die dreißig, als die Sonette jedenfalls schon begonnen
worden waren, schreibt der Dichter von „this bloody tyrant, Time“ („diese blutige Tyrannin
Zeit“, 16), von „precious friends hid in death’s dateless night“ („teure Freund’ in Todesnacht
gehüllt“, 30). Sich selbst beschreibt er als „beated and chopped with tanned antiquity, ... with
Time’s injurious hand crushed and o’erworn“ („Von fahler Zeit zerrüttet und verbogen, ...
gebeugt / Von rauher Zeiten Hand ..., verborgen“, 62-63).
Offenbar plagt die Akademiker nicht jene Angst, die andere an ihrer Stelle haben würden, daß
nämlich ihre Nachfolger den Eindruck gewinnen könnten, sie hätten den Verstand verloren.
Und schließlich und endlich, wie erklären jene Autoritäten Shakespeares Klage, daß „I once
gone, to all the world must die“ („Wenn mich auf ewig Staub der Welt verbarg“, 81), während
er zugleich voraussah, daß seine Verse gelesen wurden „so long as men can breathe, or eyes can
see“ („Solange Menschen atmen, Augen sehn“, 18) und seine Stücke „be acted o’er in states
unborn and accents yet unknown“? Das ist eine grundsätzliche Frage, die der Antwort harrt.
Wenn Shakespeare jeden Grund hatte, vorauszusehen, daß er in der Westminster Abbey
begraben sein würde, warum klagte er dann „the earth can yield me but a common grave“ („Mir
kann die Erd’ ein schlechtes Grab nur geben“, 81)?

(Juli 1997, übersetzt von Walter Klier)